Was im Berufsleben oft als heiliger Gral gehandelt wird, ist in der Montessori-Pädagogik schon lange bewährter Schlüssel zum freudigen Arbeiten: Die Stärken der Kinder ausbauen, statt an Schwächen herumzubasteln.
Ina ist heute mit der „Großen Division“ beschäftigt. Sie freut sich darauf, die Perlen am Ende restlos aufgeteilt zu haben, ist aber nicht ganz sorgfältig bei der Sache. Das weiß sie, hofft aber, dass trotzdem das richtige Ergebnis herauskommt. Am Schluss bleiben leider doch zwei Perlen übrig – Mist! Ina muss die Übung wiederholen und dabei genauer arbeiten.
Die kleine Montessori-Schülerin hat einen Fehler festgestellt und berichtigt diesen, denn sie kennt selbstständige Fehlerkontrolle, die in ihrer Schule zentral ist und permanent geübt wird. Gleichzeitig arbeitet Ina dabei (unbewusst) an ihrer Schwäche, zu ungenau vorgegangen zu sein.
Maria Montessori empfiehlt „dem Fehler gegenüber ein freundschaftliches Verhalten an den Tag zu legen und ihn als einen Gefährten zu betrachten, der mit uns lebt und einen Sinn hat.“
Dieses Zitat lässt sich leicht auf Schwächen ummünzen: Schwächen zeigen Potenziale an, geben eine Entwicklungsrichtung vor. Sie müssen nicht per se als Schwachpunkte behandelt werden.
In der Freiarbeit lässt sich besonders intensiv beobachten, wie das Kind ein individuelles Leistungsprofil entwickelt, denn Stärken und Schwächen treten hier eindeutig zutage. Montessori-Pädagog:innen leiten Kinder, die mit ihrer Arbeitswahl noch nicht verantwortlich umgehen, an. Sie begrenzen zum Beispiel die Auswahl der Arbeiten, schlagen ein Lernmaterial vor oder setzen einen Zeitrahmen. Dabei werden die Schwächen nie überbetont. An ihnen wird aus Prinzip nicht herumgedoktert – denn das würde negative Gefühle erzeugen und dem Kind die aktive Position und seine Selbstermächtigung nehmen.
In der Montessori-Pädagogik wird sehr viel mehr Gewicht auf das gelegt, was das Kind kann. Von diesen Fähigkeiten ausgehend werden die Stärken immer weiter ausgebaut. Schüler:innen werden sich aus eigenem Antrieb kreisförmig in neue Gefilde vorarbeiten. Sie landen früher oder später bei herausfordernden neuen Aufgaben und erweitern ihre Kompetenzen schrittweise.
So arbeiten sie wiederum an ihren (neuen!) Stärken, können selbst vorankommen, entwickeln mehr Selbstbewusstsein und werden – ein Credo bei Montessori – „Baumeister ihrer selbst“. Die eigenen Entwicklungskräfte wachsen, und dadurch steigen in allen Lernbereichen die Leistungen. Das ist der Zauber, den positive Lernsituationen wirken. Die Freude an der Arbeit ist der magische Schlüssel, und die steht bei Montessori immer im Mittelpunkt.
Und ich möchte festhalten: Stärken sind noch lange keine abgeschlossenen Kompetenzen. Es sind Tendenzen, mit denen gut gearbeitet werden kann. Wer Stärken stärkt, ist auf dem richtigen Weg.
Unsere Ina ist inzwischen mit dem zweiten Durchgang der Großen Division fertig – und diesmal stimmt das Ergebnis, alle Perlen sind aufgebraucht. Sie ist zufrieden und spürt, dass sie einen Schritt näher daran ist, Genauigkeit zu einer ihrer Stärken zu machen.
Autorin: Veronika Weiss