Am Beispiel Greta
Greta paukt schon den ganzen Vormittag für ihr Mathe-Abitur. Plötzlich beobachtet sie sich selbst dabei, wie sie im Regal Bücher zurechtrückt und den Vögeln Futter gibt. Prokrastination lautet der Fachbegriff für das Hinauszögern lästiger Pflichten. Das kann schon mal für die notwendige Ablenkung und Entspannung sorgen, um nach ein paar Minuten die Arbeit mit frischem Schwung in Angriff zu nehmen. Aber Greta hat nicht mehr viel Zeit bis zu ihrer Prüfung. Und sie ärgert sich auch, dass sie nicht besser bei der Sache bleiben kann. Da kommt ihr eine Idee. Sie packt ihren Laptop mitsamt der Mathebücher und geht hinaus in den Garten. Es ist ein warmer und windstiller Frühlingstag. Greta setzt sich an den Gartentisch, der von einer Rosenpergola überdacht ist. Sie lauscht sie dem Singen der Vögel und dem Summen der Insekten. Bedächtig schlägt sie ihr Buch auf und beginnt zu lesen. Plötzlich nimmt Greta war, wie die Natur um sie herum ihre Sinne schärft und sie ganz in den Augenblick zurückholt. Sie fühlen sich völlig präsent, lesen und lösen der Aufgaben gelingt mit Leichtigkeit. Gleichzeitig bemerken sie eine intensive Verbindung zu der sie umgebenden Natur. So arbeitet sie noch bis zum späten Nachmittag. Abends ist Greta völlig überrascht, wie effektiv ihr Lerntag war.
Lernflow und Polarisation der Aufmerksamkeit
Die moderne Hirnforschung spricht hier von einem Lernflow. Maria Montessori verwendete für dasselbe Phänomen den Begriff „Polarisation der Aufmerksamkeit.“ Gemeint ist mit beiden Begriffen ein völliges Versunkensein in eine beglückende Tätigkeit. Im Fall von Greta war der frühlingshafte elterliche Garten der Auslöser für ihren Flow. Ursache allerdings ihre grundliegende Begeisterung für Mathematik. Ein Flow reißt mit und setzt Energie frei. Er unterfordert uns so wenig wie er uns überfordert, sondern fühlt sich genau richtig an.
Der Lernflow kann uns in jedem Lebensalter überkommen. Kinder sind besonders empfänglich für das fließende Lernerlebnis, aber auch Studenten oder ältere Menschen können sich noch ganz und gar vom Flow mitreißen lassen. Genau das kann ältere Menschen jung halten: Die Begeisterung für eine Sache, das tiefe Gefühl der Verbundenheit und eine wunderbare Lebendigkeit.
Lernflow in der Schule unterstützen
Aber welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um Kindern diese beglückende Erfahrung möglich zu machen? Der Lernflow ist eine sehr autonome Angelegenheit. Die äußere Umgebung kann dazu eigentlich nur eine friedliche, störungsfreie Atmosphäre beisteuern.
Die allerwichtigste Regel dabei lautet: Befindet sich ein Kind im Flow, also in tiefer Versunkenheit, dürfen wir es auf keinen Fall plötzlich herausreißen. Dieser Eingriff lässt sich damit vergleichen, jemanden aus tiefstem Schlag zu reißen. Desorientierung und große Verlustgefühle können die Folge sein.
Noch ist das Phänomen Flow wissenschaftlich noch nicht ganz erforscht. Dennoch ist ziemlich klar, dass ein Flow-Erlebnis viel mit der Erfahrung der Ganzheit gemein hat. Eine Verbundenheit zwischen Innen und Außen, zwischen Mensch und Kosmos, die ein lebendiges Fließen in beide Richtungen ermöglicht und glücklich macht.
Autorin: Marie Laschitz Bildnachweis: Shutterstock/Yuganov Konstantin