Maria Montessori erzählt in ihren Schriften gerne von persönlichen Erlebnissen, die sie geprägt und zum Nachdenken, zum Ausfeilen ihrer Konzepte gebracht haben. Eines Tages entwickelte sich innerhalb weniger Stunden eine Übung, die im Montessori-Unterricht bis heute von Bedeutung ist.
Maria Montessori bringt einen Säugling ins Zimmer des italienischen Kinderhauses. Das vier Monate alte Mädchen atmet so still, dass es kaum zu hören ist. Da äußert die Pädagogin die Vermutung, dass keines der anwesenden Kinder jemals so leise sein könnte. Das spornt die Kleinen natürlich an, genau das zu versuchen:
Erstaunt und regungslos hielten die Kinder den Atem an. Eine eindrucksvolle Stille verbreitete sich in diesem Augenblick. Man hörte plötzlich das Ticktack der Uhr, das sonst nie vernehmbar war. Es schien, als hätte der Säugling eine Atmosphäre von Stille in dieses Zimmer gebracht, wie sie im gewöhnlichen Leben sonst nie besteht.
(Maria Montessori in „Kinder sind anders“, 1950)
Später wiederholt Montessori die Übung und stellt fest, dass die Kinder echte Freude daran haben, kleine Aufgaben so geräuschlos wie möglich zu meistern. Zum Beispiel werden sie von ihrer Erzieherin im Flüsterton gerufen und sollen sich daraufhin auf sie zubewegen – dabei gilt es, sich nirgends zu stoßen, behutsam einen Fuß vor den nächsten zu setzen und ganz leise zu atmen. So wird eine anspruchsvolle Übung der Konzentration und Geschicklichkeit daraus.
Das Gut der Stille ist heute im Montessori-Unterricht stets präsent und wird hoch geschätzt. Auch von den Schüler:innen, wenn diese erst einmal mit dem Konzept vertraut sind. Nach wie vor wird die „Übung der Stille“ wie oben beschrieben isoliert praktiziert, besonders mit kleineren Kindern. Die konzentrierte Ruhe hat während der Freiarbeit sowieso ihre Berechtigung, manchmal aber wird extra größtmögliche Stille angefordert, nämlich wenn die Lehrperson „Silentium“ an die Tafel schreibt. Jetzt darf Kommunikation nur noch über Gesten und Mimik oder aber Schreiben und Lesen stattfinden.
Und das kann sich anfühlen wie das Ankommen in einer heimeligen Blase – immerhin werden wir alle aus der Stille geboren. Maria Montessori weist darauf hin, dass es für ein Neugeborenes ein Schock ist, aus der Stille des Mutterleibes hinaus in eine Welt voller Lärm zu kommen. Mittlerweile ist das Bewusstsein für eine angenehme Umgebung im Kreißsaal gestiegen; es werden „sanfte Geburten“ und Wassergeburten angeboten. Montessori würde diese Konzepte unterstützen, denn sie spricht davon, dass gerade Neugeborene den größten Anspruch auf Stille haben.
Die Fähigkeit, rasch zur Ruhe zu kommen und sogar absolute Stille aus- und einzuhalten, ist nicht nur wertvoll für Neugeborene und Kinder. Auch Erwachsene schaffen es erwiesenermaßen immer schlechter, sich konsequent für einen längeren Zeitraum einer bestimmten Sache zu widmen. Mobiltelefone und die digitalen Medien haben unsere Aufmerksamkeitsspanne beträchtlich verkürzt, und so ist Stille ein Luxuszustand geworden. Sie ermöglicht erst, dass intensives Erleben und produktive Konzentration möglich sind.
Bildnachweis: Shutterstock/Mersede Mirshamsi Autorin: Veronika Weiss