Staunen im Heuschober
Der Heuschober meiner Großmutter war ein herrlicher Spielplatz. Das Heu duftete und knisterte wunderbar. Es war so weich und federnd, dass wir Kinder aus großer Höhe hineinspringen konnten und vor Freude Lachanfälle bekamen. Die stärkste Erinnerung aber ist eine ganz stille: Durch einen Spalt in der Holzwand fiel Licht in die dunkle Tenne. Millionen Staubteilchen zirkulierten in dem Lichtstrahl. Ich war vollkommen fasziniert von diesem Schauspiel. Es war wie ein kurzer Blick in eine geheime Welt, die sich mir für einen Augenblick offenbarte. Ein Augenblick, an den ich mich noch heute erinne.
Staunen im Klassenzimmer
Geht man mit offenen Augen durchs Leben, also nicht nur im Erledigungsmodus, so entdeckt man viele dieser kleinen Zaubermomente. Im Nachmittagsunterricht wandern meine Augen zum Fenster und sehen den Himmel voller Schneeflocken, die ersten dieses Jahr. Ich bitte ein Kind, das Licht auszumachen und alle Kinder kommen ans Fenster. Verzaubert blicken wir auf die dicken Flocken, die in der Luft tanzen und langsam auf die Erde fallen. Nach ein paar Minuten geht der Unterricht weiter, aber es ist etwas Wichtiges passiert: Wir waren für einen Moment Zeugen des Kosmos in seiner ganzen Schönheit.
Staunen und Maria Montessori
Dieser direkte Bezug zum Großen Ganzen ist für Maria Montessori die beste Voraussetzung, um sich im Kosmos gut aufgehoben und geborgen zu fühlen. Es kann auch das Herbstlaub sein, durch welches Sonnenlicht scheint, lange Schatten wie auf unserem Foto oder Farbe, die sich langsam in einem Wasserglas löst. Kinder geben sich diesen Momenten völlig hin. Das erinnert an die Polarisation der Aufmerksamkeit, die sich aber nur auf Tätigkeiten des Kindes bezieht. Die Hingabe jeddoch ist dieselbe.
Maria Montessori konnte die Welt mit den Augen eines Kindes sehen. Sie verstand, dass ein staunendes Kind vollkommen offen ist für eine tiefe Erfahrung und damit für einen nachhaltigen Lernprozess. So entwickelte sie viele Lernmaterialien, die das Staunen für das effektive Lernen nutzen.
Staunen und Montessori Materialien
Imbucarekasten mit gelbem Deckel
Was für ältere Kinder leicht erklärbar und selbstverständlich ist, bringt ein Kleinkind noch zum Staunen: Die Wollkugel verschwindet in der Holzbox und kommt beim Öffnen des Deckels wieder ans Licht. Es ist wie ein kleiner Zaubertrick für das Kind: Es kann aus eigener Kraft das Bällchen verschwinden und wieder auftauchen lassen. Der Lerneffekt dabei ist immens. Das Kind weiß, wo sich die Kugel befindet, ohne sie zu sehen. Sein Bewusstsein geht hier über seine sinnliche Wahrnehmung hinaus und wird zum Gedächtnis. Am Beispiel des Imbucare-Kastens zeigt sich, wie sich anfängliches Staunen in Verständnis der Wirklichkeit wandelt.
Zahlensterne für das kleine Einmaleins
Die Zahlensterne spiegeln auf sehr ästhetische Weise Gesetzmäßigkeiten der Mathematik. Jede Einmaleins-Zahl bildet mit ihren Produkten einen individuellen Stern. Das sieht nicht nur hübsch aus, sondern lehrt das Einmaleins auf sehr einprägsame Art und Weise. Die Schüler staunen, welch regelmäßige Sterne entstehen, wenn sie richtig gerechnet haben.
Das Schwarze Band
Das Schwarze Band ist 50 Meter lang und kann in seiner ganzen Länge nur quer durch das Schulgebäude ausgerollt werden. Es bringt garantiert nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene zum Staunen. Es symbolisiert die Entstehungszeit unseres Universums, die zwischen 15 und 13 Milliarden Jahren beträgt. Die letzten drei Zentimeter sind rot und symbolisieren die Zeit, seit der sich der Mensch auf der Erde befindet. Unfassbar, dass es die Menschheit in dieser kurzen Zeit geschafft hat, die ganze Erde in eine Krise zu versetzen!
Fazit
Montessori-Materialien arbeiten also damit, die Kinder zum Staunen zu bringen. Das ruft ihr Interesse hervor. Und Interesse ist der beste Lehrmeister.
Staunen hat aber noch eine weitere wichtige Funktion: Was mich zum Staunen bringt, das wertschätze ich. Was ich wertschätze, auf das passe ich gut auf.
Je mehr wir über die Natur staunen, umso nachhaltiger gehen wir mit ihr um. Wer staunt, erlebt sich als Teil des Ganzen und wird versuchen, es zu bewahren.
Autorin: Marie Laschitz Bildnachweis: Marie Laschitz, privat