Seit nun mehr als 10 Jahren bin ich Montessorilehrerin und habe an verschiedenen Schulen unterrichtet. Zu meinem Job gehört es, dass ich zweifelnde Eltern wieder auf den Weg begleite und mein Vertrauen in das Kind und seine Fähigkeiten nahezu unerschütterlich ist.
Im letzten Jahr wurde ich nun selbst das erste Mal Mutter und mein Spross ist nun mittlerweile fast ein Jahr alt. In dieser Zeit habe ich viel über die Umsetzung der Montessoripädagogik zu Hause nachgedacht. Ein kleines Casa-Klassenzimmer sollte sein Kinderzimmer auf keinen Fall werden. Zu groß ist die Angst davor, dass ich mein eigenes Kind beschule und unser Verhältnis dadurch getrübt wird. Er soll nicht meinen Erwartungen entsprechen, sondern seinen Weg gehen.
Das dieser Weg ab und an ungewöhnlich ist, sollte mich eher in meiner Überzeugung bestärken, aber leider geriet ich kurzzeitig ins Wanken...
Wie der Kinderarzt uns bei einer Vorsorgeuntersuchung mitteilte, hat unser Sohn die orale Phase übersprungen. Befreundete Mütter gratulierten uns, denn unser Kind nahm eben nicht alles in den Mund und kaute darauf herum. Zunächst dachten auch wir, dass dies nur von Vorteil sein könne und man quasi eine Sorge weniger hat. Doch während alle gleichaltrigen Kinder in unserer Umgebung anfingen am Tisch von alleine mitzuessen, saß unser Sonnenschein nur in seinem Stühlchen und ließ weiterhin sich weiterhin füttern. Am Anfang lächelte ich Kommentare hierzu noch weg, aber irgendwann nagte es an mir. Muss er das nicht auch schon können? Ist mein Kind vielleicht nicht „normal"?
Bei einem nächsten Kinderarztbesuch schilderte ich meine Bedenken. Halbherzig hörte der geschäftige Mediziner mir zu und gab mir Tipps. Ich solle meinen Sohn so lange vor dem Teller sitzen lasse, bis er von alleine mit der Hand etwas aufnimmt und sich in den Mund schiebt. Das wäre quasi ein Überlebensinstinkt. Wenn er nicht essen würde, dann sollte ich das Essen wieder weg stellen und nach zwei Stunde einen neuen Versuch starten.
Da dies unser erstes Kind ist und wir bisher großes Vertrauen in diesen Arzt hatten, probierten wird dies aus. Mein Sohn saß vor seinem Teller und war offensichtlich hungrig. Er schaute mich hilfesuchend an, doch ich sollte ihn ja alleine essen lassen. Voller Verzweiflung versuchte mein Sohn das Essen nun mit dem Mund aufzunehmen. Er weinte bittere Tränen und auch ich begann zu schluchzen.
Nein! Das konnte nicht der Weg sein!
Ich überlegte mir, ob ich in der Schule einem Kind so etwas zumuten würde. Niemals!
Warum tat ich es dann bei meinem eigenen Kind?
Ich vertraute auf den Arzt, der mein Kind nicht wirklich kannte, und war sehr verunsichert. Zudem wurde mein Kind seit seiner Geburt mit anderen Kindern verglichen und die Ergebnisse schön in einer Tabelle festgehalten. Bei jedem Treffen mit anderen Müttern wurde fortan verglichen und manchmal glaubte ich, dass es einen heimlichen Mütter-Wettkampf gäbe. Alter, Größe, Gewicht… Je näher man am Durchschnitt lag, umso besser schien die Akzeptanz bei den anderen Müttern. „Normal sein“ als neuer Trend…
Mein Mann war derjenige, der mich aus diesem Sog befreite und mich an meine Prinzipien erinnerte. Wir wollten auf die Signale unseres Sohnes hören, so wie wir es uns bei seiner Geburt versprochen hatten. Also fütterten wir unseren Sohn weiterhin und warteten auf seine Signale.
Wenn er noch nicht bereit dazu war mit den Fingern alleine zu essen, dann wollten wir einfach warten und auf seinen inneren Bauplan vertrauen.
So kam es, dass unser Sohn bei Tisch immer nach der Gabel griff. Mein Mann spickte dann die Gabel mit Essen und reichte sie unserem Sohn. Ich war mehr als verwundert und überrascht, als der kleine Mann die Gabel nahm und diese zielsicher zum Mund führte. Ungläubig wiederholte ich diese Tätigkeit. Ich spickte erneut eine Gabel und hielt sie unserem Sohn hin. Und erneut führte er die Gabel zielsicher zum Mund und aß.
Fortan isst unser Sohn mit einer Gabel…
Dieses Ereignis zeigte mir, dass Kinder ihren eigenen Weg gehen und man auch ungewöhnliche Wege zulassen muss.
Das Kind im Mittelpunkt bedeutet eben nicht, dass man Konformität fördern und fokussieren sollte, sondern vielmehr, dass man Individualität zulassen und stärken sollte.
Jedes Kind trägt seinen eigenen Bauplan in sich und wir sollten ihm Zeit und Gelegenheit geben, um sich zu offenbaren. Die Aufgabe der Erwachsenen ist nun, dass wir dem Kind erlauben seinen Weg zu gehen und wir auch Umwege zulassen. Vertrauen in das Kind und seine Fähigkeiten bedeutet jedoch auch, sich frei zu machen von den äußeren Einflüssen und Zwängen.
Schon Montessori sagte einst….
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