Die Eltern der Kinder aus der Orionklasse sitzen beim Elternabend gespannt um das Mathematikmaterial herum, das Bastian, der Lehrer, am Boden ausgebreitet hat. Eine bunte Perlenschlange schlängelt sich quer über den Teppich. Sie ist aus farbigen und grauen Perlenstangen unterschiedlicher Länge zusammengesetzt. Bastian beginnt seine heutige Mathe-Darbietung mit dem Schlangenspiel.
Dieses Material steht bei Montessori-Kindern ab dem Vorschulalter hoch im Kurs und sie beherrschen es oft in einem atemberaubendem Tempo.
Für Simon, den Vater von Naomi, ist das Schlangenspiel eine kleine Offenbarung. Der Journalist und Filmemacher spürt heute noch das Unbehagen, das ihn als Schüler regelmäßig im Mathe-Unterricht überkam. Das Gefühl, etwas verstehen zu müssen, was sich völlig irreal anfühlte. Zahlen, die für etwas standen, was weder zu sehen noch zu spüren war. Winzige Zeichen wie ein + oder ein - , die man nur zu leicht übersehen und damit das Ergebnis komplett verfälschen konnte. Formeln, die unmöglich zu merken waren und noch unmöglicher zu verstehen. Und die Bedrohlichkeit des absoluten Urteils, richtig oder falsch gerechnet zu haben!
Als Bastian die grauen Stäbchen der Kette nach hinten klappt, sie umtauscht und von der Schlange abzieht, seufzt Simon hörbar auf. "Warum hat mir die Subtraktion niemals jemand so einfach erklärt?" fragt er in die Runde und einige Eltern lachen beistimmend.
Als Kind hatte Simon einfach keine Rezeptoren für all die abstrakten Zahlen und Zeichen, die völlig ungreifbar und nebulös herumschwebten und nur eines mit Sicherheit garantierten: Ein falsches Ergebnis. Worte sprachen immer zu ihm, sie hatten ein immenses Eigenleben und nahmen stets einen neuen Farbton an, wenn man sie gekonnt zusammensetzte. Aber Zahlen waren für ihn seelenlose Wesen ohne Farbton oder Klang, die die Welt vielleicht vermessen, niemals aber erfassen konnten.
Bis heute Abend. Heute beginnen die Zahlen sich zu materialisieren, sich bunt über den Teppich zu schlängeln und ganz nebenbei ihre Gesetzmäßigkeiten und Geheimnisse zu verraten. In Form von Perlen, Stäbchen, Stangen oder Plättchen wird die geordnete und logische Welt der Mathematik greifbar und sichtbar. Simon fühlt sich unendlich erleichtert. Er war nicht zu dumm, um die Welt der Zahlen zu verstehen. Die Zahlen waren bis heute einfach nicht in Erscheinung getreten.
Natürlich gibt es Kinder mit einem großen mathematischen Vorstellungsvermögen, die ohne Probleme Zahlen als Größen wahrnehmen können und Rechenmethoden wie die Division oder die Multiplikation schnell begreifen, auch wenn sie ihnen nur in schriftlicher Form nahegebracht wird. Andere Kinder können die abstrakte Welt der Mathematik aber nicht in ihrem Weltbild verorten. Sie verwenden alle Energie darauf, sich mühsam vorzustellen, was bei einer Methode passiert, so dass nicht mehr viel Ausdauer für die eigentliche Rechenaufgabe bleibt. Für sie ist das Mathematik-Material von Maria Montessori wie geschaffen.
Bastian räumt die Schlange wieder weg und legt das Multiplikationsbrett aus. Später das Divisionsbrett. Und zum Abschluss das Wurzelbrett. Er zeigt den Eltern in aller Ruhe die verschiedenen Rechenmethoden. Er muss nicht viel erklären. Die Materialien sprechen für sich. Alles ist augenscheinlich und vollkommen klar.
Am Ende des Elternabends ist die Stimmung ausgezeichnet. Die Eltern erfahren am eigenen Leib, das es gute Laune macht, etwas Neues zu verstehen.
Für Simon schreibt sich heute abend die Geschichte zwischen der Mathematik und ihm völlig neu. Er war nie ein dummer Schüler. Es hat bloß nie jemand den Schleier gelüftet zwischen ihm und dem Reich der Mathematik. In Zukunft kann seine Tochter Elena ihm zeigen, was er alles verstehen kann, wenn man es ihm nur deutlich sichtbar vor Augen führt.
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