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Montessori Pädagogik

Montessori: Begreifen kommt von Greifen, Verstehen kommt von Stehen

8 Aug, 2017

Montessori: Begreifen kommt von Greifen, Verstehen kommt von Stehen

Die Überschrift macht deutlich, wie sehr unsere Sprache den engen Zusammenhang von Intellekt und Körper widerspiegelt. Seit einiger Zeit beschäftigt sich die moderne Hirnforschung mit dem Verwoben Sein von kognitiven Prozessen und dem gesamten menschlichen Organismus. Was der Geist aufnimmt, wird immer in irgendeiner Form über die Neuronen an den Körper weitergeleitet und verarbeitet. Wahrnehmen können wir das allerdings nur, wenn uns eine Information sehr überrascht oder überwältigt. Eine mögliche Reaktion des Körpers wäre da etwa ein beschleunigter Puls, ein kurzer motorischer Kontrollverlust oder eine erhobene Stimme. Steigt zusätzlich noch Angst auf, kommt es aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer negativen Rückkoppelung im Gehirn. Denn starke negative Emotionen blockieren unser Denken und liefern uns, ob wir wollen oder nicht, unkontrolliert den Affekten aus. 

Umgekehrt haben aber auch physiologische Prozesse Auswirkungen auf den Geist. Wenn der Körper tief entspannen darf, wird in der Regel auch der Geist ruhig und  konzentriert. Körperliches Wohlbefinden ist meistens auch eine wichtige Voraussetzung für Kreativität und Intuition, die oft erst in der Entspannung von Innen heraus ins Bewusstsein aufsteigen können.

In der Montessoripädagogik werden diese Erkenntnisse der Neurowissenschaft schon lange im Lernalltag erkannt und umgesetzt. Bei vielen Materialien wird die Verknüpfung von körperlicher Bewegung und Lehrprozessen bewusst angestrebt und angeregt, damit sich das Gelernte besser im Gehirn verankern kann.

So ist etwa das "Gehen auf einer Linie" für jüngere Kinder eine äußerst wichtige Übung, um Körper und Geist in Einklang zu bringen. Am Boden wird mit Klebeband eine Ellipse von etwa 3-4 Metern Länge geklebt. Die Kinder können nun immer einzeln und in vielen Variationen auf dieser Linie gehen (barfuß, rückwärts, mit einem Glas Wasser usw.). Diese Übung bringt die Kinder sehr schnell in ihre Konzentration. Auch schult das Gehen auf einer Linie den Gleichgewichtssinn und trainiert die Koordination von Augen und Beinen. Die gezielten, achtsamen Schritte auf der Linie bringen das Kind weg von der Unruhe im Kopf in seinen Körper und in seine Mitte zurück. Zugleich entschleunigt das Balancieren auf der Linie sehr stark und nervöse, aufgeregte Kinder werden wieder beruhigt und geerdet.

Voraussetzung für ein Gelingen der Übung ist allerdings die gesammelte Aufmerksamkeit aller anwesenden Kinder. Durch den gemeinsamen Mittelpunkt, nämlich das Kind auf der Linie, widmet sich die ganze Gruppe achtsam einer gemeinsamen Sache und fokussiert sich. Das Balancieren zentriert die Kinder und zeigt ihnen ihre momentanen Stärken und Grenzen auf. Wird die Übung öfters durchgeführt, können die Kinder die Erfahrung machen, dass ihr Gleichgewichtssinn nicht jeden Tag identisch ist, sondern von Tag zu Tag variiert.

Pädagogen machen oft die Erfahrung, dass die ruhigeren, ausgeglicheneren Kinder auch sicherer auf der Linie gehen können als die unruhigeren Kinder. Hier wird das Zusammenspiel von Psyche und Körper besonders deutlich. Innere Ausgeglichenheit drückt sich ein Stück weit eben auch in körperlicher Stabilität aus.

 

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Hirnforschung ist die Vernetzung und Koordination der beiden Gehirnhälften. Um das Potential des menschlichen Verstandes möglichst umfassend nützen zu können ist eine ausgewogene  Entwicklung und Förderung beider Gehirnhälften notwendig. Besonders effektiv sind Übungen, die die beiden Hälften ansprechen und unmittelbar miteinander verknüpfen. 

Ideal hierfür ist die Beschäftigung mit dem Montessorimaterial Große Liegende Acht. Das Kind hält mit beiden Händen eine liegende Acht aus Holz, auf der in einer Bahn eine Kugel bewegt wird und beliebig oft dem Schwung der Acht folgt. In einer rhythmischen Bewegung wird hier nicht nur die Geschicklichkeit und das periphere Sehen geübt, sondern durch die gekreuzte Bahn der Acht werden im fliegenden Wechsel beide Gehirnhälften beansprucht. Durch Kontinuität werden zwischen den Hälften neue neuronale Verbindungen geschaffen, die die geistige Kapazität des Kindes erhöhen. Im Spiel mit der großen liegenden Acht kreuzt das Kind immer wieder mit seiner Aufmerksamkeit die Körpermitte und überschreitet sie von links nach rechts und umgekehrt von rechts nach links.

Dieser Aspekt ist besonders im Elementarbereich und im heilpädagogischen Bereich von Bedeutung. Das Kreuzen der Körpermitte ist ja ein wichtiger Entwicklungsschritt in frühen Jahren. Die liegende Acht gilt auch als eine Übung der Stille, da die erforderliche Konzentration und die gleichmäßige Bewegung eine sehr beruhigende Wirkung auf das Kind haben. Fast könnte man hier von einem meditativen Charakter des Materials sprechen.

 

Der Körper lernt also immer mit. Er unterstützt vielschichtige Lernprozesse durch die Entwicklung von neuen neuronalen Verbindungen. Das gelingt am Besten, wenn mit Hilfe des Lernmaterials auf ganz verschiedenen Ebenen Lerninhalte im Gehirn verankert werden. Hier liegt wohl ein Erfolgsrezept von Montessorimaterialien: Sie lassen sich zunächst mit den Augen betrachten, dann mit den Händen fühlen, oft auch schmecken, riechen oder hören um schließlich, positiv verstärkt, mit dem Verstand begriffen zu werden.   

Autorin: Marie Laschitz